Volker Spengler: Abgrund der Wahrhaftigkeit

Im Hochadel sozialisiert und dann immer Teil der Avantgarde: Zum Tod des Schauspielers Volker Spengler.

Wer lebt, stört“, sagt Herr Paul im gleichnamigen Stück von Tankred Dorst aus dem Jahr 1993. Bei dieser Rolle eines gesellschaftlich Überständigen, dessen fast obszönes Phlegma nur durch gelegentliche melodramatische Aufwallungen durchbrochen wird, steht einem, auch wenn er sie nie gespielt hat, sofort der Schauspieler Volker Spengler vor Augen.


Auch er, der im gleichen Jahr 1993 wieder im Berliner Theater heimisch wurde, im Berliner Ensemble (BE) zunächst, wohin ihn Peter Palitzsch und Peter Zadek in der kurzen Zeit ihrer Viererintendanz mit Fritz Marquardt und Heiner Müller geholt hatten, brachte so eine unanständige, weil ungeformt wirkende Lebendigkeit mit auf die Bühne: Diese unverhohlene Körperlichkeit! Diese quakig krächzende Stimme! Und die hervollquellenden, wässrigen Augen, mit denen er das Publikum auch und gerade in Nebenrollen herausfordernd musterte!

Ja, Volker Spengler störte als Schauspieler. Er fügte sich nie ins Bild, sondern riss es auf. Aber nicht als Kapitulation vor dem Spiel, wie 1993 manche gedacht haben mochten, die ihn etwa in Palitzschs Inszenierung als Brechts „Baal“ sahen (und das „Neue Deutschland“ schrieb damals entsetzt: „Spengler spielt die Figur nicht, er leiht ihr seine massige Leibesfülle …“). Sondern als dessen Steigerung.

Der Abgrund der Wahrhaftigkeit war Volker Spenglers Habitat. Und die Koketterie damit, dass das Geschehen auf der Bühne jederzeit entgleisen und über die Rampe hinweg in den Zuschauerraum schwappen könnte. Über diese Raubtierhaftigkeit im Spiel, die auch Martin Wuttke oder Sophie Rois haben und wofür man sie fürchtet und verehrt, verfügte Spengler noch in viel ungeschützterem Maße. Bloß neigte man dazu, sie bei ihm nicht für erarbeitet, sondern für naturgegeben zu halten.

Dabei war Volker Spengler, der 1939 in Bremen geboren wurde und als Jugendlicher zunächst kurz eine seemännische und danach noch kürzer eine kaufmännische Laufbahn einschlug, schauspielerisch gewissermaßen im Hochadel sozialisiert, bevor er dann lebenslang zur Avantgarde gehörte. Ausgebildet am Max-Reinhardt-Seminar in Wien, spielte er schon als Anfänger in Stuttgart mit Heinz Ehrhardt und in Hamburg mit Ida Ehre zusammen. 1968/69 besetzte ihn Fritz Kortner am Schillertheater in West-Berlin in seinen Inszenierungen von Shakespeares „Sturm“ und „Antonius und Cleopatra“. Später arbeitete Spengler mit Einar Schleef in Frankfurt und wirkte dort unter anderem in dessen auch zum Berliner Theatertreffen 1988 eingeladener Hauptmann-Inszenierung „Vor Sonnenaufgang“ mit. In Frankfurt lernte er auch Peter Palitzsch kennen.

Dem großen Publikum aber wurde Volker Spengler durch seine Filmrollen bekannt, insbesondere durch die Zusammenarbeit mit Rainer Werner Fassbinder. Legendär ist seine vornehm-verzweifelte Darstellung der transsexuellen Elvira Weishaupt in „In einem Jahr mit 13 Monden“ (1978). Ob mit Perlenohrringen und verschleiert, ob in Mieder und BH oder doch wieder im Herrenanzug – Spengler zeigte die Heillosigkeit unerwiderter Liebe nicht als Travestie, sondern in geschlechterübergreifender Verletzlichkeit inmitten all der hippen Lakonie der anderen Figuren. Privat lebte Volker Spengler in Männerbeziehungen.

Die irritierende Haltlosigkeit, mit der Spengler seine Theaterrollen grundierte, wurde durch die Fassbinder-Zeit entscheidend geprägt. Auch ein gewisses Diventum wuchs ihm hier zu, aus dem erst Christoph Schlingensief in Filmen wie „Das deutsche Kettensägenmassaker“ (1990), in den späteren neunziger Jahren dann Frank Castorf und René Pollesch an der Volksbühne filmisch-theatralischen Profit schlugen. An mindestens zwanzig Produktionen wirkte Volker Spengler am Rosa-Luxemburg-Platz und im Prater mit, von Castorfs „Baumeister Solness“ bis zu René Polleschs „Tal der fliegenden Messer“.

Die hoheitsvolle, maximal absturzgefährdete Anmaßung, die er ausstrahlen konnte, die elefantöse Zartheit, entgleiste Fröhlichkeit, lauernde Verletzlichkeit, trotzige Herrschsucht oder triefäugige Melancholie – wo Volker Spengler war, war mehr als Theater, da war Zirkus im Sinne allerhöchster Künstlichkeit und dringlichster Menschlichkeit, Peinlichkeiten aller Art inbegriffen.

Dass eine so exzessive Persönlichkeit wie Volker Spengler privat gesundheitlich gefährdet sein mochte, gehörte als Hintergrundgedanke so zur Authentizität seiner Erscheinung und seiner Kunst, dass man selbstverständlich annahm, er würde im nächsten Jahr unter dem neuen Intendanten René Pollesch wieder an der Volksbühne zu sehen sein. Er wäre ja nicht der erste Darsteller jenseits der 80 auf diesen Brettern gewesen. Doch acht Tage vor seinem 81. Geburtstag ist Volker Spengler am Samstag in Berlin gestorben.

Es bleibt eine große Lücke und die auch künstlerische Gewissheit: Wer stört, lebt.

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